Macht auf Wanderschaft
2. August 2009
von Johannes Hellmich
Wenn es in deutschen Landen Orte gibt, an denen in traumloser Zeit Phantasie überleben konnte, dann ist Dresdens Neustadt eines dieser fast exterritorialen Gebiete. Hier findet jene freiheitsliebende, scheue Phantasie noch immer Schlupfwinkel für sich und ihre Nachkommenschaft. Hier kann sie ihren Verfolgern über bunte Hinterhöfe, Balkons und Dächer entkommen. Wie um das Kostbarste zu schützen, teilt sich das Gründerzeitareal in einen äußeren und inneren Bereich. Aber gerade im Allerheiligsten ist jenes Geschöpf besonders gefährdet. Die Domestikation der Kommune nach landläufigen Begriffen öffentlicher Ordnung konnte an dieser Stelle am erfolgreichsten durchgesetzt werden. Phantasie und Einwohner haben sich damit, so gut es geht, arrangiert. Sie leben weiter einträchtig zusammen. Ihre gemeinsame, wunderbare Sprache, ist der Traum.
Menschen von außerhalb geben manchmal viel Geld aus, um diese Sprache zu hören und das Wesen Phantasie zu sehen, obwohl beides in ihrem Leben sonst keinen Platz hat. Es kommt auch vor, dass sie die Phantasie umbringen, wo sie ihrer habhaft werden. Den Einwohnern des merkwürdigen Landes zwischen Albertplatz und Prießnitzgrund begegnen Auswärtige oft mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid, Misstrauen oder Verachtung. Die Fähigkeit zu träumen, gilt ihnen als gefährlich. Andernorts wurde diese unnütze Kunst längst unter Strafe gestellt. Ihre mühsamen Eingliederungserfolge grüner Phantasten müssen Sachsens Herrscher nun vielleicht allzu teuer bezahlen. Ende August könnte sich ein ururalter Traum erfüllen. Wie das gehen kann?
Der fromme, alttestamentarische Seher Daniel verstand die seltsame Sprache des Träumens besonders gut. Dem babylonischen König Nebukadnezar II. übersetzte er Traumgebilde, die naturgemäß um Regierungsangelegenheiten kreisten. Daniels geniale Deutungen wurden sogar zur Grundlage der bis in die Neuzeit weit verbreiteten Vier-Reiche-Lehre und zu einer der Säulen westlicher Geschichtsvorstellung. Zunächst nur als sinnstiftende Erklärung eines offenbar chaotischen Weltlaufes gedacht, instrumentalisierten Herrscher die Lehre später hemmungslos für eigene Machtgier. Daniels unspektakulär scheinende Traumdeutung verlor dennoch nichts von ihrer Kraft. Die translatio imperii wirkt als Idee weiter bis in unsere Tage.
Vier aufeinanderfolgende Weltreiche sollten danach eine Kontinuität weltlicher Herrschaft und göttlicher Heilsgeschichte bilden. Befristete Supermacht; verstanden als Teil eines göttlichen Masterplans, der himmlische Ordnung spiegelbildlich auch auf Erden schaffen sollte. Irdische Reichsherrschaft war jedoch untrennbar mit einem gewissen Gerechtigkeitsanspruch verbunden und war verwirkt, wenn negative Auswirkungen von Gewaltausübung ihre Segnungen dauerhaft überwogen. Gott selbst bestimmte die Weitergabe der Herrschaft über das Erdreich – dem Lauf der Sonne folgend – in einer Verschiebung von Ost nach West: Babylon, Persien, Griechenland und Rom. Westliches Überlegenheitsdenken hat hier maßgebliche Impulse erfahren. Weltende und anschließendes tausendjähriges Reich Gottes erwartete man nach dem Untergang des in Ost- und Westrom geteilten vierten Reiches. Erst im Jahre 1806 hatte Napoléon Bonaparte den deutschen Versuch, Rom weiter über die Zeit zu retten und so den Weltuntergang hinauszuschieben, beendet. Die Apokalypse folgte über einhundert Jahre später.
Die tiefe Gewissheit der Reichsübertragung hatte da längst an Bedeutung verloren. Vor allem die Unentschiedenheit darüber, wer zu Recht beanspruchen durfte, göttliches, also ewiges, fünftes Reich zu sein, stufte die Idee zur bloßen Legitimationskrücke eines schnöden Kolonialismus herab. Sowohl Frankreich, Spanien, England und Amerika fühlten sich als letzte Heilsbringer und Träger des Gottesgnadentums. Den katastrophalen Tief- und Endpunkt aller Reichsvorstellungen bildete der für tausend Jahre geplante NS-Staat inklusive seiner angestrebten Befreiung der Welt vom bolschewistischen Antichristen. Nachbeben der Reichsidee sind bis in die aktuelle Weltpolitik zu beobachten. Die Überschriften unter denen weltliche Ordnung hergestellt werden soll, klingen heute freilich etwas moderner; das Sendungsbewusstsein ist geblieben.
Aufblühen und Niedergang früherer Großreiche werden zum Glück längst in komplexen Zusammenhängen dargestellt. Eindimensionale Erklärungen können viele Widersprüche nicht auflösen. Dennoch: das Bild des wandernden Lichtes ist faszinierend und behält zumindest als Entwicklungsgedanke durchaus eine gewisse Berechtigung.
Parallelen zur Übertragungsidee sind auch in der neueren europäischen Politik und der deutschen insbesondere auszumachen. Auch hier gibt es so etwas wie ein Weiterwandern verantwortlichen Denkens. Auch hier waren es zunächst progressive, aufstrebende Kräfte, die am ehesten zukunftsweisende Antworten geben konnten. Die oft schmerzhafte Neuausrichtung von Verantwortung fiel freilich nicht immer zusammen mit tatsächlicher Macht der Protagonisten. Sowohl ein großer Liberalismus, der den verfassungsrechtlichen und freiheitlichen Grundlagen der Moderne zum Durchbruch verhalf, als auch jene gewaltigen Kräfte, für die soziale Fragen im Vordergrund standen, konnten ihre Forderungen nur teilweise, verspätet oder gar nicht durchsetzen. Auch hier zuerst ein Erstarken der Strömungen und Verdrängung durch nachfolgende. Mit dem Konservatismus, der mit Unterbrechungen Deutschland seit Jahrzehnten dominiert, haben sich neben Wirtschaftsstabilität und breitem Wohlstand zugleich auch restaurative Tendenzen verstärkt. Die translatio imperii wendet sich hier auch gegen scheinbar übermächtige bürgerliche Parteien, die unfähig bleiben, auf globalisierte Herausforderungen zu reagieren. Bei allen Schwächen sind es die Grünen, die für eine Kontinuität der Verantwortung stehen und eine konservative Phase in Deutschland langfristig am ehesten ablösen können.
Ob es bei den anstehenden Wahlen in Sachsen zu einem weiterreichenden Regierungswechsel kommt, ist eher fraglich. Auch wenn absolute Mehrheiten für Sachsens CDU zur Vergangenheit gehören; ein bürgerliches Übergewicht scheint für weitere Jahre sicher. Und doch: Beispiele für die Erschöpfung christdemokratischer Gestaltungskraft allein in Dresden gibt es zuhauf. Eigener Machterhalt und das Bewachen und Verteilen von Pfründen sind inzwischen letzte vitale Regungen einer ansonsten apathischen, fast moribunden Landespartei. Das Erstarken der forschen Freiheitlichen zeigt, dass die Union mit der Aufgabe eines positiven Wertkonservatismus (wie im ungelösten Welterbe- und Elbwiesenkonflikt) eigene Substanz nachhaltig beschädigt hat. Längst sind die Repräsentanten der Macht im Lande selbst Getriebene. Es gibt auch für Sachsens CDU keinen Grund, fast zwanzigjährige Herrschaft als eine Art fünftes Reich zu begreifen. Ihre Herrschaft schickt sich bereits an, auf Wanderschaft zu gehen.
Ende August hat es neben den Bewohnern der Altstadt ausgerechnet die bunte Schar der Wähler in Dresdens Norden in der Hand, bleierne christdemokratische Dominanz im Land aufzubrechen. Gelänge dies, wäre es für die demokratische Kultur in Sachsen ein großer Gewinn. Johannes Lichdi hat die Chance, als erster grüner Direktkandidat in den Sächsischen Landtag einzuziehen. Euphorie ist freilich fehl am Platze. Auch Grüne sind den vielfältigen Gefährdungen durch Macht ausgesetzt. Auch ihre Erneuerungskraft kann verschleißen. Grüne werden vermutlich die gleichen klugen Argumente lernen, mit denen man nötige Veränderungen verhindern kann. Noch aber steht ökologisch-demokratisches Handeln am Anfang eines langen Weges, der unser gemeinsamer ist. Johannes Lichdi muss unterstützt werden. Sein Engagement wahrt zudem die Möglichkeit, dass unsere Stadt mit einem Kompromiss am Waldschlösschen wieder zu sich finden kann. Kritisches Wohlwollen, aber auch manche Skepsis unter Welterbefreunden bleiben hier für Lichdis Arbeit unverzichtbar.
Sollten Wähler der SPD und der Linken Johannes Lichdi mit ihrer Erststimme helfen, das Direktmandat zu erreichen? Ist das auch eine Option für die Nachdenklichen unter den Unions-Anhängern? Die Antwort lautet beide Male: Ja.